NotizBlog Lehren & Lernen
ZLL, Redaktion
Neurodiversität im Hochschulkontext
22. Feb 2023, 09:12
Der Diversitätsbegriff ist im wissenschaftlichen Kontext sehr komplex, ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Neurodiversität“. Dieser hat inzwischen Einzug in den Hochschulalltag gehalten, weshalb das dahinterliegende Verständnis hier in den Blick genommen wird.
Woher kommt der Begriff „Neurodiversität“?
Zunächst ist festzuhalten, dass es wie beim Diversitätsbegriff verschiedene Ursprünge mit unterschiedlichen Konnotationen für diesen Begriff gibt. Für den Hochschul- und Lehr-Lern-Kontext ist jedoch das in der Neurodiversitätsbewegung entstandene Verständnis relevant, welches in einer Bewegung für soziale Gerechtigkeit Anklang fand und eng verknüpft ist mit dem Einsatz für allgemeine Menschenrechte, Gleichberechtigung und die gesellschaftliche Teilhabe aller. Dieses Verständnis steht hier im Fokus – andere Diskursstränge werden zur Vereinfachung ausgeblendet.
Die erste Verwendung des Begriffs in den 1990er Jahren wird der australischen Soziologin Judy Singer zugeschrieben. Singer forschte u. a. zu Autismus. Deswegen wird Neurodiversität manchmal mit Autismus gleichgesetzt, jedoch gehen die gesellschaftliche Analyse und die damit verbundenen Forderungen darüber hinaus: Singer und anderen Forschende sowie Journalist*innen und Aktivist*innen stellten die Forschungsergebnisse in einen Zusammenhang mit den in den 1990ern stärker werdenden Forderungen nach gesellschaftlicher Teilhabe aller Menschen – insbesondere von Minderheiten in einer Gesellschaft. Eine gemeinsame Basis fanden sowohl die politischen Forderungen als auch die Forschungsergebnisse im Modell der sozialen Behinderung. [Vertiefung für Interessierte]
Doch was genau ist mit dieser neurologischen Diversität gemeint?
Wie das Präfix „Neuro“ vom altgriechischen „neuron“ und im Deutschen „Nerv“ nahelegt, geht es hier um die Vielfältigkeit des Nervensystems und der neuro(bio)logischen Entwicklung – insbesondere des Menschen bzw. des menschlichen Gehirns. Die Neurologie (also die Lehre/Wissenschaft des Nervensystems) ist ein Teilgebiet der Medizin. Hier geht es nun aber nicht um die physiologischen Merkmale, sondern um gesellschaftliche Normen auf Basis vermeintlicher medizinischer Erkenntnisse. Die Neurodiversitätsbewegung übt starke Kritik an einer pathologisierenden Grundhaltung innerhalb der Medizin und deren Wirken in die Gesellschaft hinein. Denn eben diese Haltung führe dazu, dass Menschen unrechtmäßig als ‚gestört‘, ‚krank‘, gar ‚falsch‘ oder als ‚behandlungspflichtig‘ kategorisiert werden und in Folge dessen mit Diskriminierung und Ausgrenzung zu kämpfen haben.
Stattdessen hat sich innerhalb der Neurodiversitätsbewegung ein Konzept von „Neurodiversität“ entwickelt, bei dem vermeintliche Krankheitsbilder wie z. B.
- Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom/Hyperaktivitätsstörung (alltäglich bekannt unter: AD(H)S),
- Autismus-Spektrum-Störungen (Autismus),
- Rechenstörung (Dyskalkulie),
- Lese- und Rechtschreibstörungen (Legasthenie),
- Tourette (Gilles-de-la-Tourette-Syndrom),
- andere Entwicklungsstörungen, die Sprache und Motorik betreffen,
- aber auch Zwangsstörungen, Bipolarität, Schizophrenie usw.
als natürliche Dispositionen menschlicher Entwicklung und als gleichwertige Formen neurologischer Funktionsfähigkeit des Menschen verstanden werden. Die hier benutzten Begriffe sind allerdings noch stark medizinisch geprägt und oft mit den o. g. pathologisierenden Einstellungen verknüpft, wie u. a. Begriffe wie ‚Syndrom‘, ‚Störung‘ oder ‚Dysfunktion‘ erkennen lassen. Genau hier setzt die Neurodiversitätsbewegung an: Das Paradigma der Neurodiversität verschiebt den Fokus von einem Konzept von Krankheit oder Störung hin zu individuellen Eigenschaften und der Vielfalt innerhalb der menschlichen Entwicklung. Diese Entwicklungen sind von verschiedenen Faktoren geprägt. Dabei gibt es genetische, biologische, kulturelle und soziale Einflussfaktoren – wobei festzuhalten ist, dass jeder Mensch einzigartig ist sowie seine individuellen Stärken und Fähigkeiten mitbringt, die es wertzuschätzen gilt. Folglich sind diskriminierungsfreie Lebensbedingungen und die Gewährung der selben Rechte und Freiheiten, die für alle Menschen gelten, die Basis für die gesellschaftliche Teilhabe aller.
Was bedeutet das nun für die Hochschule?
Die Anerkennung von Neurodiversität in der Lehre bedeutet, dass die Bedürfnisse, Stärken und Lernstile von sogenannten „neurodivergenten Menschen“ berücksichtigt werden. Es geht grundsätzlich darum, eine lernförderliche Umgebung zu schaffen, die alle Studierenden respektiert und unterstützt. Wie diversitätssensible Rahmenbedingungen geschaffen und didaktische Entscheidungen diversitätsreflektiert getroffen werden können, wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt (für Details zur Gestaltung der Rahmenbedingungen siehe Informationsmaterialien in AULIS). Stattdessen werden verschiedene Beispiele zur Sensibilisierung aufgeführt, um für Lehrende „greifbar“ zu machen, was die Berücksichtigung von Neurodiversität für ihr konkretes Lehrhandeln bedeuten kann:
Studentin im Autismus Spektrum
Name: Laura, Alter: 26 Jahre, Studiengang: Architektur
Hintergrund: Laura wurde im Alter von 13 Jahren mit Autismus diagnostiziert. Trotz einiger Herausforderungen im sozialen und kommunikativen Bereich hat sie sich immer für Kunst, Design, aber auch Mathematik interessiert und daher entschieden, eine Kombination dieser Bereiche zu ihrem Studium zu machen.
Besonderheiten: Laura ist sehr intelligent, hat aber Schwierigkeiten, soziale Signale und Emotionen bei anderen Menschen wahrzunehmen und zu interpretieren. Sie nimmt manchmal Dinge wörtlich, was zu Missverständnissen führen kann. Laura braucht oft mehr Zeit, um ihre Gedanken zu formulieren und kann sich in einer Gruppe schnell überwältigt und überfordert fühlen. Aufgrund ihres Bedürfnisses nach Routinen helfen ihr vorhersehbare Strukturen und eine klare Kommunikation von Erwartungen und Aufgaben.
Stärken: Laura arbeitet sehr konzentriert und exakt, was ihr bei ihrem Studium hilft. Sie hat ein hervorragendes Gedächtnis für Zahlen, Daten und Fakten und kann sich ausdauernd in ein Thema vertiefen. Außerdem ist sie kreativ und hat ein besonderes Auge für Details und Formen.
Bedürfnisse: Laura braucht eine klare und strukturierte Umgebung, um sich wohlzufühlen und effektiv zu lernen. Vorlesungen mit viel visueller Unterstützung sind für sie sehr hilfreich, da sie diese Informationen besser verarbeiten kann. Sie ist eine ehrliche und direkte Person und schätzt es, wenn ihr Lehrende klare Anweisungen sowie Feedback geben, damit sie ihre Leistungen verbessern kann. Eine möglichst frühzeitige Vorwarnung bei Änderungen in Lehrveranstaltungen sind sehr wichtig für sie. Sie hat Schwierigkeiten bei Gruppenarbeiten und kann sich in unübersichtlichen oder lauten Umgebungen schnell überfordert fühlen. Laura benötigt Unterstützung bei sozialen Interaktionen und bei der Überwindung ihrer Ängste in einer Gruppenumgebung. Insgesamt hilft ihr eine geduldige und verständnisvolle Umgebung dabei, ihr volles Potenzial zu entfalten und erfolgreich zu studieren.
Student mit ADHS
Name: Mohamet, Alter: 20, Studiengang: Wirtschaftsinformatik
Hintergrund: Mohamet ist ein junger Mann mit der Diagnose ADHS. Er ist motiviert und interessiert an seinem Studiengang und seiner Zukunft, aber findet es manchmal schwer, sich zu konzentrieren und Aufgaben zu beenden. Er vergisst häufig Termine und Aufgaben. Außerdem hat er Schwierigkeiten, längere Texte zu lesen und zu verarbeiten.
Besonderheiten: Mohamet ist ein schneller Denker und hat eine ausgeprägte Problemlösungsfähigkeit. Er ist ein aktiver und kreativer Mensch, der gerne in Bewegung bleibt und immer neugierig auf neue Dinge ist. Mohamet hat eine lebhafte Persönlichkeit und ist oft zuversichtlich und gut gelaunt. In seiner Freizeit spielt er gerne Videospiele und treibt Sport, um seine Energie abzubauen. Mohamet ist sehr gesellig und hat eine gute Beziehung zu seinen Freunden und Familienmitgliedern.
Stärken und Bedürfnisse: Im Hörsaal wird Mohamet von längeren Vorträgen und Monologen schnell abgelenkt. In Vorlesungen und Seminaren findet er es schwer, stillzusitzen und seine Aufmerksamkeit auf Dozierende und die Präsentation zu richten. Er findet es auch schwierig, sich Notizen zu machen und den Lernstoff zu organisieren. Er braucht häufig Bewegung und Abwechslung, um aufmerksam zu bleiben. Mohamet ist jedoch sehr engagiert und fragt oft nach, wenn er etwas nicht versteht. Er braucht klare und übersichtliche Anweisungen für Aufgaben und Prüfungen, um seine Leistungen zu verbessern. Mohamet schätzt es auch, wenn die Lehrenden ihm Feedback geben und ihn ermutigen, seine Stärken zu nutzen. Er hat große Probleme damit, lange Texte zu lesen und zu verarbeiten, aber er kann gut visuell und auditiv lernen. Er profitiert von einer vorhersehbaren Lernumgebung und einer organisierten Arbeitsweise. Mohamet schätzt es, eine Agenda oder einen Zeitplan zu erhalten, was ihm dabei hilft, seinen Aufgaben und Verpflichtungen strukturiert nachzugehen. Mohamet braucht eine unterstützende Umgebung, in der er sein Potenzial voll ausschöpfen und sein Studium erfolgreich abschließen kann.
Student*in mit Tourette
Name: Kim, Alter: 22 Jahre, Studiengang: Soziale Arbeit
Hintergrund: Kim ist gesellschaftlich engagiert, von der Arbeit mit Menschen begeistert, blickt positiv in die Zukunft und lebt seit Kindheitstagen mit der Diagnose Tourette, was sich in unwillkürlichen Bewegungen und Lautäußerungen in Form unangebrachter Wörter und Geräuschen ausdrückt, die nicht bewusst kontrolliert werden können.
Besonderheiten: Kim hat sich schon früh an die Ticks gewöhnt und gelernt, damit umzugehen. Oft bedeutet dies allerdings Kompensation und härteres Arbeiten, um berufliche Ziele zu erreichen.
Stärken und Bedürfnisse: Kim ist sehr intelligent, fokussiert, aber kann manchmal Schwierigkeiten haben, sich auf lange Vorlesungen oder Prüfungen zu konzentrieren, da die Ticks nicht nur Kim selbst ablenken, sondern auch andere, was für alle Beteiligten unangenehm werden kann. Kim ist ein extrovertierter und freundlicher Mensch, der jedoch manchmal Schwierigkeiten hat, sich durch soziale Interaktionen zu navigieren. Durch das Tourette kann Kim in sozialen Situationen unbeholfen wirken, wodurch Hemmungen entstanden sind, in Gruppen zu arbeiten oder öffentlich zu präsentieren. Zweiergespräche sind jedoch kein Problem. Kim ist dankbar für jede Unterstützung und Verständnis seitens der Lehrenden und Kommiliton*innen. Kim wünscht sich einen humorvollen Umgang mit den Ticks.
Zu beachten ist, dass Sensibilisierung ein kontinuierlicher Prozess ist und Lehrende (wie Studierende) ständig lernen und sich weiterentwickeln müssen, um der gesellschaftlichen Diversität gerecht zu werden. Zudem sollte im Blick behalten werden, dass Bedarfe von sogenannten „neurodivergenten Menschen“ variieren können und individuell sind. Auch in Bezug auf Neurodiversität sollte auf das gemeinsame Ziel hingearbeitet werden, eine Hochschule zu schaffen, die für alle Menschen inklusiv und diskriminierungsfrei ist.
Workshop: „Neurodings“ und was wir darüber wissen sollten: Neurodiversität in der Gesellschaft und in der Hochschullehre
Für Lehrende, die sich weiter mit diesem Themenfeld beschäftigen möchten, gibt es ein hochschuldidaktisches Angebot am 16.03.2023. Das Projekt Gender und Diversity hat Petra Schultz-Adebahr & Mirjam Puppe eingeladen, die in ihrem Workshop die grundlegenden Spezifika von Neurodiversität klären und mit den Teilnehmenden gemeinsam besprechen, welche Barrieren im Hochschulalltag bestehen und wie diese abgebaut werden können, um den Inklusionsgedanken umzusetzen. Details zum Workshop und zur Anmeldung erfahren Sie auf der ZLL-Website.
Autorinnen: Ramona Kaufmann (ZLL), Silke Wanninger-Bachem (IDT)